Im Folgenden lesen Sie das Schreiben der Initiatorin des Energiewende-Appells MdB Dr. Nina Scheer vom 28. August 2020 an den SPD-Parteivorstand zum Thema!

Kontakt
Dr. Nina Scheer, Mitglied des Deutschen Bundestages
Platz der Republik 1, 11011 Berlin | Tel.: 030 227 73538| Mail: nina.scheer@bundestag.de
Sozialdemokratischer Energiewende-Appell ● www.energiewende-appell.de

Betr.: Der beschleunigte Umstieg auf Erneuerbare Energien ist eine sozialstaatliche Pflicht. Forderungspunkte zur anstehenden EEG-Novelle und flankierende Rahmenbedingungen

Liebe Saskia, lieber Norbert,
lieber Olaf, liebe Svenja,
liebe Mitglieder des SPD-Parteivorstandes,

Dank SPD ist es gelungen, in Deutschland sowohl ein Klimaschutzgesetz zu verabschieden als
auch den Kohleausstieg gesetzlich einzuleiten. Damit ist Deutschland in Fragen von Klimaschutzverpflichtungen weiter als viele andere Länder.
Es darf aber nicht verkannt werden, dass mit Klimaschutzverpflichtungen noch keine Entscheidung für die Alternative zu Kohle und Atom getroffen wurde. Hierfür ist ein aktiver und beschleunigter Umstieg auf Erneuerbare Energien, EE, erforderlich. Andernfalls laufen unsere Klimaschutzziele ins Leere. Ebenfalls dank SPD und dem unter Rot-Grün 2000 verabschiedeten und in Kraft getretenen Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG, ist heute bereits ein Anteil von über 45 Prozent Strom aus Erneuerbaren Energien erreicht. Der Gesamtenergiebedarf basiert gleichwohl zu über 80 Prozent noch auf endlichen fossilen Ressourcen.

Mit den Erfolgen beim Ausbau Erneuerbarer Energien wuchsen aber auch die gesetzlichen Hürden. Solche liegen in gesetzlichen Mengensteuerungen, in Form der 2016 eingeführten Ausschreibungen für Windenergie, in zu hohen Strompreisbestandteilen, etwa der Eigenverbrauchsumlage und weiteren Steuern, Abgaben und Umlagen, die nicht zuletzt das Speichern bzw. die Umwandlung in Wasserstoff unrentabel machen. Lange Genehmigungsverfahren, zu wenig Windenergie-Flächen und zu große Abstände, insbesondere in Form der bayrischen 10H-Regelung, verhindern den Windenergieausbau und bedrohen tausende von Arbeitsplätzen. Tausende Arbeitsplätze sind bereits aufgrund bekannter gesetzlicher Fehlstellungen verloren gegangenen.
Weder die gesetzlich erfolgreich verabschiedeten nationalen Klimaschutzziele (Klimaschutzgesetz) noch der Erhalt von Technologieführerschaften und hiermit einhergehende Wertschöpfung sowie Arbeitsplätze lassen sich erreichen, erhalten oder Kontakt gar ausbauen, wenn entsprechende Energiewende-Hemmnisse nicht umgehend beseitigt werden.

Und hier setzt unser Appell an:

Aus Erfolgen lernen!
Energiewende funktioniert dezentral und unter Beteiligung von Kommunen und den Menschen vor Ort – mit Akteurs- und Technologievielfalt. Ein wieder zu beschleunigender Ausbau Erneuerbarer muss einhergehen mit einer Umstellung der Energieversorgung auf Erneuerbare Energien – nur so kann Energiewende gelingen. In der Energieversorgung ist ein Paradigmenwechsel notwendig! Die gesamte Energiewirtschaft und Energieversorgung – inklusive Netzmanagement unter Einbindung von Speichern – muss auf die Eigenschaften Erneuerbarer Energien zugeschnitten werden und nicht umgekehrt.

Marktwirtschaftliche Zeichen auf Energiewende setzen!
Abhängigkeiten von endlichen Ressourcen stehen für Verknappung und Preisanstiege. Nur die Energiewende führt aus dieser Preisfalle und garantiert sinkende Energiepreise –hin zu dauerhaft bezahlbarer Energie für alle. Die sektorübergreifende Einbindung Erneuerbarer Energien muss sich lohnen: Mit Anreizen für einen sektorübergreifenden Wechsel der Energiequelle bei Mobilität, Wärme, Gebäuden, in der Industrie und damit auch für Flexibilität, Netzmanagement und Versorgungssicherheit, mithin für ein integriertes Energiesystem auf Basis Erneuerbarer Energien. Um bestehende Hemmnisse abzubauen und den Ausbau Erneuerbarer Energien zu beschleunigen, bedarf es folgender Maßnahmen und Änderungen im Erneuerbare Energien-Gesetz (EEG) und flankierender energiegesetzlicher Rahmenbedingungen:

Ausbau Erneuerbarer Energien garantieren und beschleunigen
 Der Weiterbetrieb der aus dem EEG fallenden Erzeugungsanlagen (Altanlagen) wird
über einen Mindestabnahmepreis und fortbestehenden Einspeisevorrang garantiert.
 Die Flächen von Altanlagen bleiben für Repowering erhalten, wenn nicht zwingende
Gründe dem entgegenstehen (Regel-Ausnahmeprinzip).
 Das heute mit dem Koalitionsvertrag benannte Ausbauziel von 65 Prozent bis 2030
für (Strom aus) Erneuerbare(n) Energien ist mit Blick auf den steigenden sektorübergreifenden Bedarf erkennbar zu gering. Das Ausbauziel muss auf mindestens 75 Prozent erhöht werden.
 Der Mindestzubau bei der Wind- und Solarenergie (Photovoltaik) wird auf jeweils mindestens 5 GW pro Jahr, besser 7-8 GW, angehoben. Unter Berücksichtigung des zusätzlichen Strombedarfs in den Sektoren Wärme und Mobilität muss die Photovoltaik bis 2040 auf mehr als 400 GWpeak, sowie die Windenergie auf etwa 200 GW (Onshore) und auf etwa 75 GW (Offshore) ausgebaut werden.
 Aufhebung von Ausbau-Mengenbeschränkungen: Jedes Ausbauziel ist grundsätzlich als Mindestziel zu verstehen bei dessen Unterschreitung sofort Maßnahmen zur Zielerreichung ergriffen werden.
 Die heutige Leistungsbeschränkung von PV-Freiflächenanlagen auf max. 10 MW in Freiflächenausschreibungen wird aufgehoben.
 Auf pauschale Abstandsfestlegungen zwischen Windenergieanlagen und Siedlungen wird verzichtet. Strenge immissionsschutzrechtliche und planungsrechtliche Anforderungen (z.B. TA Lärm) werden in den einzelnen Genehmigungsverfahren bereits geprüft und sorgen dafür, dass ausreichende Abstände eingehalten werden. Pauschale Abstandsregelungen schränken heimische Wertschöpfungspotentiale und Möglichkeiten des Umstiegs auf Erneuerbare Energien ein. Aufgrund des gegebenen Ausbaubedarfs widersprechen sie den Klimaschutzverpflichtungen, aber etwa auch der grundgesetzlichen Berufsausübungsfreiheit und dem grundgesetzlichen Eigentumsrecht.
 Die Flächenkulisse für PV-Freiflächenanlagen wird ausgeweitet (zum Beispiel der 110-m-Korridor entlang von Autobahnen oder durch die bundesweite Öffnung der benachteiligten Gebiete); Agro-Photovoltaik muss vereinfacht werden. Gemüse-, Obst- und Pflanzenbau unter aufgeständerten PV-Modulen beenden die „Flächenkonkurrenz“ zwischen Landbau und Energieerzeugung.
 Der Einsatz von gebäudeintegrierten PV-Anlagen an Fassadenflächen muss forciert und gefördert werden. Die Nutzung von Balkon-PV-Modulen („Volks-PV“) muss vereinfacht werden.
 Das Mieterstromgesetz wird auf Quartierskonzepte erweitert, um hier gewonnenen regenerativen Strom ohne zusätzliche Abgaben an die Nutzer der Gebäude weiterzugeben. Der Ausbau-Deckel beim Mieterstrom wird abgeschafft.

Systemkorrektur: Mindestpreise statt Ausschreibungen
Die mit dem EEG 2016 eingeführten Ausschreibungen haben sich nicht bewährt: zuletzt wurden 56 Prozent der Mengen nicht vergeben – begleitet von einem massiven Akteursrückgang zulasten von dezentraler Beteiligung. Anders als 2016 mit dem damaligen Koalitionsvertrag vorgesehen, wurden die Ausschreibungen vor ihrer Einführung – trotz Kontakt verbreiteter Warnungen und negativen Erfahrungen aus dem Ausland – nicht erprobt. Das war ein Fehler, der sich heute mehr als deutlich zeigt und Korrekturen erforderlich macht.

Daraus folgt:
 Einführung einer Wahlfreiheitzwischen Ausschreibungen und einem einspeisevergütenden Mindestpreis.
 Technologieübergreifende Ausschreibungen werden nicht mehr durchgeführt, um damit einen vernünftig abgestimmten Ausbau von Photovoltaik und Windenergie zu gewährleisten. Nach Rechtsprechung des EuGH aus 2019 stellt das EEG keine Beihilfe dar, womit auch die von der EU-Kommission aufgestellte EU-Beihilfeleitlinie für Erneuerbare Energien im Einspeisevergütungssystem des EEG nicht mehr anzuwenden ist. Dies ermöglicht auch einen vollständigen Verzicht auf Ausschreibungen.
Aber auch im Rahmen der EU-Beihilfeleitlinie könnte weiträumig auf Ausschreibungen verzichtet werden: Photovoltaik-Anlagen vollständig und Windparks mit maximal 25MWGesamtleistung (De-minimis-Regel) ausschreibungsfrei. Angesichts der erreichten Wettbewerbsfähigkeit Erneuerbarer-Energien-Technologien wird ein schneller Ausbau, zumal bei gleichzeitigem Fortfall von Anlagen nach Ablauf der 20-jährigen Einspeisevergütung (ab 2021) keine Umlagenerhöhung bewirken.
Sollte das Ausschreibungsregimes dennoch beibehalten werden, muss ein eigenes Ausschreibungssegments für PV-Dachanlagen > 750 kWp eingeführt werden, da diese Anlagen momentan mit Freiflächenanlagen konkurrieren und damit in den Ausschreibungen nicht zum Zuge kommen.

Sozial-ökologische Marktwirtschaft fortschreiben
 Strom aus Erneuerbaren Energien ist von staatlich induzierten Preisbestandteilen (Steuern-, Abgaben-, Umlagen) zu befreien und von Netzentgelten zu entkoppeln.
 Die EEG-Umlage wird um die (historischen) Entwicklungskosten für Erneuerbare Energien sowie flankierende Förderungen, darunter die besondere Ausgleichsregelung für energieintensive Unternehmen, reduziert, die dann aus Steuern zu finanzieren ist. Es ist weder gerecht noch anderweitig begründbar, warum die genannten Preiselemente von den Stromkunden zu leisten sind. Bei einer Deckelung der EEG-Umlage (6,5 Cent in 2021, 6,0 Cent in 2022 mittels Bundeszuschüssen (11 Mrd. Euro), Beschluss Koalitionsausschuss 3.6.) durch Einnahmen nach dem Brennstoffemissionshandelsgesetz(BEHG) muss gewährleistet sein, dass das EEG nicht als Ganzes in die Beihilfe fällt.
 Zur weiteren Senkung der EEG-Umlage wird für die Berechnung der EEG-Umlage nicht mehr der Börsenstrompreis herangezogen, sondern die den Stromversorgern direkt entstandenen durchschnittlichen Kosten
 Die Eigenverbrauchsumlage auf Photovoltaik-Anlagen größer 10 kWpeak wird abgeschafft, denn sie führt zu einer künstlichen Verteuerung von EE-Eigenversorgung und schafft den Fehlanreiz, Dachflächen nur für Anlagen unterhalb dieser Schwelle zu nutzen.
 Keine Verhinderungspreise! Der atmende Deckel (§ 49 Abs. 2 EEG) darf den PVAusbau nicht gefährden.
 Negative Preise zu Lasten der Erzeuger Erneuerbarer Energien sind auszuschließen.

Regulatorische Hemmnisse beseitigen
 Die Genehmigungsverfahren für Windenergieanlagen müssen deutlich beschleunigt werden und sind auf maximal zwei Jahre zu begrenzen. Immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren bei Windenergieanlagen müssen in der Durchführung vereinfacht werden.
 Der Instanzenweg bei Klagen gegen immissionsschutzrechtliche Genehmigungen von Windenergieanlagen an Land muss verkürzt werden (zukünftig nur noch OVG und BVerwG). Die aufschiebende Wirkung von Klagen und Widersprüchen gegen Genehmigungen von Windenergieanlagen muss beschränkt werden.
 Das BMI soll noch in 2020 eine Beratungsstelle zu Planungsfragen bei der Ausweisung von Flächen für die Windenergienutzung gründen.
 Der Anlagenschutzbereich Drehfunkfeuer soll von 15 km auf 10 km für sog. DVOR herabgesetzt werden. Außerdem soll das Bewertungsverfahren der DFS zur Ermittlung von Störungen von Drehfunkfeuern durch Windenergieanlagen geändert werden.
Artenschutz darf nicht zum Instrument gegen die Windenergie verwendet werden und soll durch die verpflichtende Anwendung von Sensortechniken zur Erkennung von Vögeln, die die Rotorgeschwindigkeit vorübergehend artgerecht reduzieren, erfüllt werden. Die Folgewirkungen des fortschreitenden Verbrauchs endlicher fossiler Energieressourcen auf unser Klima, aber auch auf unsere Gesundheit und die Umwelt als menschliche Lebensgrundlage, sind mit dem Maßstab an Generationengerechtigkeit, staatlicher Vor- und Fürsorge unvereinbar. Ein chancengleicher Zugang zu Energie von morgen verlangt den beschleunigten Umstieg auf Erneuerbare Energien. Effizienz und Einsparungen reichen nicht, denn auch der effizienteste Umgang mit Kohle, Gas und Öl bedeutet fortwährende Abhängigkeit von eben diesen Ressourcen.

Zudem drohen Flucht vor Klimafolgeschäden, aber auch vor (weiteren) Kriegen um Öl und Gas – der sich anbahnende Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei sei als jüngstes warnendes Beispiel genannt. Die Corona-Krise zeigt ferner anhand von Medizinprodukten, etwa Atemschutzmasken, was auch im Energiemarkt drohen kann, wenn Verknappung spürbar wird: Atemschutzmasken, die einst für wenige Cent erhältlich waren, kosteten zwischenzeitlich 20 Euro und mehr.
Eine Verknappung von Ressourcen, von denen Volkswirtschaften stark abhängig sind – der deutsche Energiemarkt noch zu über 80 Prozent von fossilen Energieressourcen –käme einem gesellschaftlichen Kollaps gleich, bedroht das sozialstaatliche Prinzip und damit die Grundlagen unseres Gemeinwesens.
Der beschleunigte Umstieg auf Erneuerbare Energien ist eine sozialstaatliche Pflicht.
Für die kommenden Wochen steht unter anderem eine von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier angekündigte EEG-Novelle an. Wir bitten euch, die vorstehenden Ausführungen in den Verhandlungen über die Ausgestaltung der anstehenden energiepolitischen Entwicklungen zu berücksichtigen.

Mit solidarischen Grüßen
Eure
Dr. Nina Scheer

Bundestagsabgeordnete und folgende MitautorInnen [*]
[…] Ernst Deiringer, Seefeld

Und weitere UnterzeichnerInnen [*] des sozialdemokratischen Energiewende-Appells

[…] Wolfgang Niemann, Seefeld-Hechendorf

*) aus datenschutzrechtlichen Gründen, haben wir hier nur die MitautorInnen und UnterzeichnerInnen unseres Ortsvereins veröffentlicht. Weitere MitautorInnen und UnterzeichnerInnen finden Sie unter dem Link des “Energiewende-Appells” https://energiewende-appell.de/wp-content/uploads/2020/09/2020-08-28-Forderungspapier_Der-beschleunigte-Umstieg-auf-Erneuerbare-Energien-ist-eine-sozialstaatliche-Pflicht.pdf